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Brasilien – 1945 bis 2024

von Dr. Uwe Kaestner (Kapitel 1-8) und Dr. Georg Witschel (Kapitel 9-12)

Gegen Ende des 2. Weltkriegs musste Staatspräsident Getúlio Vargas, der in den 1930er Jahren den ‚Estado Novo‘ (nach dem Vorbild Mussolini-Italiens) geschaffen hatte, von seinem Amt zurücktreten. Die Brasilianer, die nach 15 Jahren zum ersten Mal wieder an die Urnen gingen, wählten als ersten Nachkriegspräsidenten General Eurico Gaspar Dutra. 1946 nahm die Konstituierende Versammlung eine neue demokratische Verfassung an, die bis 1967 in Kraft blieb.

Dutras Amtszeit endete 1951. Als Nachfolger wurde Vargas – diesmal verfassungsmäßig – zum Präsidenten der Republik gewählt. Er konnte sich auf die Popularität stützen, die ihm seine progressive Politik auf dem Gebiet der Sozialfürsorge und des Gewerkschaftsrechts eingetragen hatte. Inmitten einer schweren politischen Krise beging Vargas 1954 Selbstmord.

Herausragende Persönlichkeit der folgenden Jahre war Präsident Juscelino Kubitschek (1956-1961), der Gründer Brasílias. Er brachte Brasilien in den fünf Jahren seiner Regierung einen schnellen wirtschaftlichen Aufschwung sowie internationales Ansehen. Ausländische Investitionen führten zu einer breit gefächerten Industrialisierung. Im rasanten Aufbau der neuen Hauptstadt lag jedoch auch der Ursprung einer jahrzehntelangen Inflation.

Auf Kubitschek folgte Präsident Jânio Quadros, der nach weniger als einem Jahr zurücktrat. Sein Vizepräsident João Goulart wurde erst als Präsident vereidigt, nachdem der Kongress hastig ein parlamentarisches System verabschiedet hatte, das die präsidialen Machtbefugnisse stark einschränkte.

Aus Besorgnis über Goularts marxistische Tendenzen putschte das Militär und stürzte den Präsidenten am 31. März 1964. Die Revolutionäre von 1964, Militärs, die sich im „Obersten Revolutionskommando“ organisiert hatten, und Politiker aus dem konservativen Spektrum verstanden sich als die Garanten des moralischen, politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus des Landes. Sie stützten ihren Putsch auf die Theorie der Nationalen Sicherheit, die dem Militär eine der Regierung übergeordnete Schiedsrichterrolle und Ausnahmerechte zubilligte.

In der Zeit der Militärdiktatur (1964-1985) hatten fünf Generäle das Amt des Präsidenten inne. Starke antikommunistische Tendenzen brachten zunächst Marschall Humberto Castello Branco an die Macht. Er sah seine Hauptaufgabe in der Stabilisierung der politischen und wirtschaftlichen Situation des Landes. Umfangreiche Zusatzartikel zur Verfassung dienten nicht nur zur Selbstlegitimation der Regierung, sie statteten diese auch mit den für eine Neugestaltung des Landes nötigen Befugnissen aus. Persönliche Grundrechte wurden aufgehoben, Kongressmandate aberkannt, Richter und Beamte abgesetzt. Neue, strikte Maßnahmen schnitten massiv in das wirtschaftliche und politische Leben ein. Tarifverhandlungen wurden abgeschafft, Streiks praktisch verboten und die Gewerkschaften in ihren Rechten beschnitten.

Während der Amtszeit des Präsidenten Arthur da Costa e Silva schien um das Jahr 1968 der wirtschaftliche Kurs die gewünschten Erfolge zu zeitigen. Die Inflationsrate ging zurück. Im Vertrauen auf die Stabilität der Regierung investierten ausländische Firmen wieder. Als Reaktion auf ausufernde Proteste von Studenten und Oppositionellen sowie eine Stadtguerilla mit Botschafterentführungen verschärfte die Regierung jedoch ihren Kurs. Der Kongress wurde aufgelöst. 1969 trat Präsident Costa e Silva aus Gesundheitsgründen zurück. Mit Präsident Emílio Garrastazu Medici erlebte das Militärregime seine repressivste Phase. Eine Wahrheitskommission bezifferte 2015 die Zahl der Opfer – ermordete und verschwundene – auf rund 400.

Andererseits: Zwischen 1967 und 1974 erfreute sich Brasilien einer der höchsten wirtschaftlichen Wachstumsraten der Welt – im Jahre 1973: 14 Prozent. Die erste Ölkrise unterbrach dann die Aufwärtsentwicklung.

Mitte der siebziger Jahre leitete Präsident Ernesto Geisel, das erste deutschstämmige und protestantische Staatsoberhaupt, eine schrittweise Rückkehr zur Demokratie ein. Mit der Wahl João Baptista Figueiredos zum Präsidenten (1979) begann der Prozess der „Öffnung“ („Abertura“). Aufgehobene politische Rechte wurden allmählich wieder zuerkannt. Eine Amnestie für Regime und Opposition wurde erlassen. Viele im Exil lebende Brasilianer kehrten ins Land zurück. Im selben Jahre verstärkte sich in der Bevölkerung die Forderung nach voller Wiederherstellung der Demokratie. Figueiredo hielt konsequent am Öffnungsprozess fest, so dass 1982, erstmals nach 17 Jahren, die Gouverneure der Bundesstaaten wieder direkt gewählt wurden.

1984 riefen Demonstranten landesweit nach sofortigen und direkten Präsidentschaftswahlen: „Diretas Já“. Mit Erfolg: Im Januar 1985 bestimmte eine Wahlversammlung Tancredo de Almeida Neves, den Kandidaten eines Oppositionsbündnisses, zum neuen Präsidenten.

Vor effektiver Amtsübernahme starb Neves. Vizepräsident José Sarney übernahm die Amtsgeschäfte. Er rief zu allgemeinen Wahlen für eine Verfassungsgebende Versammlung auf, die ein neues Grundgesetz erarbeiten sollte. Nie zuvor in der Geschichte Brasiliens hatte die Bevölkerung so lebhaften Anteil an der Erarbeitung eines Gesetzes genommen. Nach 18-monatigen Beratungen wurde am 15. Oktober 1988 eine neue Verfassung mit umfangreichem Grundrechtsteil verkündet.

Aus den ersten direkten Präsidentschaftswahlen seit 1960 ging im November 1989 Fernando Collor de Mello als Sieger hervor. Seine Regierung, die die Wirtschaft des Landes aufbauen und dem internationalen Austausch öffnen wollte – was aber nicht gelang und stattdessen eine galoppierende Inflation heraufbeschwor – führte zu einem Härtetest der neuen Demokratie.

Nach Korruptionsvorwürfen wurde Collor im September 1992 vom Abgeordnetenhaus für 180 Tage seines Amtes enthoben. In dieser Zeit sollte in einem Senatsverfahren über Schuld oder Nichtschuld und seinen endgültigen Verbleib im Amt entschieden werden. Am 29. Dezember 1992, wenige Minuten nachdem der Senat das Verfahren eingeleitet hatte, trat Collor zurück. Itamar Franco, Vizepräsident unter Collor, wurde als Präsident für die zwei aus Collors fünfjähriger Amtszeit verbleibenden Jahre vereidigt. Collors Amtsenthebung durch das Abgeordnetenhaus, das Impeachment-Verfahren im Senat und sein Rücktritt vom Amt stellen ein neues Kapitel in Brasiliens politischer Geschichte dar.

Professor Dr. Fernando Henrique Cardoso wurde 1994 Präsident und 1998 wiedergewählt. Mit ihm trat ein Mann an die Spitze Brasiliens, der auf eine internationale akademische Laufbahn – unter der Militärregierung im Exil – und eine steile politische Karriere – im Zuge der Redemokratisierung -zurückblicken konnte. Soziologie-Studium an der Universität São Paulo und Postgraduiertenstudium an der Pariser Sorbonne legten den Grundstein für bedeutende Arbeiten über die Dependenz-Theorie. Cardoso war Gründungsmitglied der Partei der Brasilianischen Demokratiebewegung (PMDB) und später der von dieser abgespalteten Sozialdemokratischen Partei (PSDB). Er war Senator, Mitglied der Verfassungsgebenden Versammlung und – in der Regierung seines Vorgängers Itamar Franco – zunächst Außen-, dann Finanzminister.

Er stützte sich während beider Amtszeiten auf eine Parteienallianz aus PSDB, PMDB und der konservativen PFL, die ihm breite parlamentarische Mehrheiten verschaffte.

In gewissem Gegensatz zu seiner akademischen Lehrtätigkeit führte Cardoso eine Wirtschaftspolitik mit neoliberalem Grundzug. Bereits als Finanzminister hatte er eine grundlegende Wirtschafts- und Währungsreform konzipiert („Plano Real“), die er nunmehr als Präsident umsetzte: Kernstück war die Einführung einer neuen Währung – des Real – mit dem Anspruch der Stabilität. Dieses Ziel wurde erreicht durch Kopplung des Real an den US-Dollar sowie durch Haushaltsdisziplin. So gelang es, die in Jahrzehnten eingewurzelte Inflationsmentalität zu brechen, ein Erfolg, der bis heute anhält – in Rückschau die wohl bedeutendste Errungenschaft der Präsidentschaft Cardosos.

Zwar musste vor dem Hintergrund der asiatischen und russischen Wirtschaftskrise Ende der 1990er Jahre die Wechselkursbindung an den US-Dollar aufgegeben werden. Gleichwohl führten eine insgesamt günstige nationale und internationale Konjunktur sowie ein umfangreiches Privatisierungsprogramm (Rohstoffe, Energie, Telekommunikationen, Banken) mit bedeutenden Zuflüssen von Auslandskapital zu einer stabilen wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung. Brasilien wurde zu einem Schwellenland, das internationales Vertrauen genoss. In diese Richtung wirkte auch die durch Verfassungsänderung ermöglichte Wiederwahl Cardosos für eine zweite Amtszeit.

Auf bildungs- und sozialpolitischem Felde wurde die Einschulungsrate – insbesondere durch Förderung von Kindern aus armen Bevölkerungsschichten – auf über 90% gesteigert sowie die Agrarreform mit erheblichen Zahlen von Neusiedlern vorangetrieben. Insgesamt änderte sich die im Weltmaßstab sehr ungleiche Einkommens- und Eigentumsverteilung aber nicht.

Auf internationaler Bühne erreichte Brasilien, auch durch eine Vielzahl von Auslandsreisen des polyglotten Präsidenten, hohes Ansehen. Aufgrund seines wirtschaftlichen Gewichts wurde Brasilien zu einem Motor regionaler Integration (Mercosur) und interamerikanischer Zusammenarbeit. Gewachsene Statur bewies Brasilien in den internationalen Handelsverhandlungen (Doha-Runde) sowie in der internationalen Umweltpolitik und untermauerte so auch seine Kandidatur für einen Ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat.

Europa und Deutschland genossen Cardosos besondere Sympathie: So war er 1999 Gastgeber eines Gipfels der Staats- und Regierungschef der Europäischen Union und Lateinamerikas und besuchte wiederholt Deutschland, u. a. bei der Eröffnung der Weltausstellung Hannover 2000.

Am 1. Januar 2003 übernahm mit Luiz Inácio Lula da Silva („Lula“) erstmals ein Brasilianer das Präsidentenamt, der nicht den traditionellen politischen, wirtschaftlichen, militärischen oder akademischen Eliten entstammt. Er hatte als Kandidat der Arbeiterpartei (PT) mit 61% der Stimmen gewonnen. Sein Gegenkandidat José Serra von der PDSB (Partei des scheidenden Präsidenten Cardoso) war nach parteiinternen Streitigkeiten zu spät aufgestellt worden und konnte den Vorsprung Lulas nicht mehr wettmachen.

Das sich abzeichnende Wahlergebnis und nationale wie internationale Befürchtungen eines „Linksrucks“ hatten allerdings bereits im Sommer 2002 zu einem wirtschaftlichen Vertrauensverlust geführt, mit der Folge von geringem Wachstum, Kapitalabflüssen und versiegenden Investitionen. Hier gegenzusteuern musste erste Sorge der neuen Regierung sein: Präsident Lula berief deshalb in wirtschaftliche Schlüsselressorts und an die Spitze der Zentralbank politische Schwergewichte bzw. ausgewiesene Fachleute und setzte auf eine eher konservative Wirtschaftspolitik mit Haushaltsdisziplin, Inflationsbekämpfung, hohen Zinsen sowie ersten Reformen bei Steuern und Renten. Der Internationale Währungsfonds half mit einem Großkredit.

Diese Politik erreichte ihr Ziel: nach Stabilisierung 2003 sprang 2004 das Wachstum wieder an. Brasilien verbuchte Exporterfolge bei Agrarprodukten (Soja, Baumwolle, Zucker), mineralischen Rohstoffen und Industriegütern; neue Arbeitsplätze entstanden; ausländische Investoren kehrten zurück; das sog. Brasilienrisiko (Zinszuschlag im Vergleich zu US-Staatsanleihen), Arbeitslosigkeit und Inflationsrate erreichten historische Tiefstände, die Landeswährung gewann gegenüber dem US-Dollar; und die Zahlungsbilanz verzeichnete erstmals seit langem Überschüsse.

Zum sozialen Gegenstück dieser Wirtschaftspolitik machte Präsident Lula Sozialprogramme, insbesondere „Bolsa Família“, die nach Anlaufschwierigkeiten etwa 11 Millionen arme brasilianische Familien erreichten. Zugleich wurde Präsident Lula auf internationaler Ebene zum Wortführer für mehr soziale Gerechtigkeit zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Viele Anhänger und Wähler des Präsidenten hatten sich allerdings mehr erhofft, insbesondere auch eine entschiedene Landreform – diese fordert die „Bewegung der Landlosen“ (MST) mit Protesten und Landbesetzungen nachdrücklich ein. Hier allerdings trifft sie nicht nur auf Widerstand der Großgrundbesitzer, sondern auch auf das Interesse der Regierung an ungestörten, devisenträchtigen Agrarexporten.

Präsident Lulas Wahlsieg 2002 hatte den schwerwiegenden Mangel, dass seine Arbeiterpartei (PT) und die Liberale Partei von Vizepräsident José Alencar keine parlamentarische Mehrheit erringen konnten. Zur Durchsetzung von Gesetzgebungsvorhaben mussten deshalb Koalitionen geschmiedet werden: dies gelang mit kleineren Mitte-Links-Parteien (die durch Übertritte von Abgeordneten noch Zulauf erhielten), allerdings nicht mit festen programmatischen Absprachen, sondern eher von Fall zu Fall. Die Gesetzgebung wurde dadurch schwerfällig. Einige Reformvorhaben wurden deshalb verwässert, andere stagnierten.

Im Sommer 2005 kam durch Berichte inquisitiver Medien der Verdacht auf, bei dieser Art von Koalitionsbildung seien nicht nur wie üblich Posten verteilt, sondern an einzelne Abgeordnete auch illegale Gelder gezahlt worden. Diese Vorgänge unter dem Namen „Mensalão“ waren Gegenstand umfassender parlamentarischer Untersuchungen, die Präsident Lula zwar keine persönliche Verantwortung nachweisen konnten, aber weiterhin Parlament und Justiz beschäftigen.

Im Kampf um seine Wiederwahl konnte sich Luiz Inácio Lula da Silva gegen seinen Herausforderer Geraldo Alckmin, ehemals Gouverneur des Staates Sao Paulo, im zweiten Wahlgang mit über 60% der Stimmen klar durchsetzen. Seine Partei PT verlor auf Bundesebene Mandate, kam aber insgesamt glimpflich davon.

Größte Herausforderung des Präsidenten zu Beginn seiner zweiten Amtszeit war die Bildung einer mehrheitsfähigen Parteienkoalition im Parlament, die die Ursache des Mensalão, die Notwendigkeit, Abstimmungsverhalten zu erkaufen, verhindern sollte.

Aufgrund dieser Schwierigkeiten konnte Lula erst im März 2007 sein neues Kabinett vorstellen. Dabei beteiligte er Koalitionsparteien und ihre Schlüsselfiguren auch zum Nachteil der PT, setzte teils auf bewährte Kräfte und teils auf parteiunabhängige Experten.

Der thematische Schwerpunkt der zweiten Amtszeit Lulas wurde mit Ausrufung eines Programms zum Beschleunigen des Wachstums (PAC) gesetzt, welches den Wohnungsbau ankurbeln, die Infrastruktur des Landes verbessern und Arbeitsplätze schaffen soll.

Dieses Programm und eine gute Konjunktur auf dem Binnenmarkt erlaubten Brasilien, die internationale Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/2008 besser zu überstehen, als dies vielen anderen Industrie- und Schwellenländern gelang. Für viele Brasilianer der Unterschicht eröffneten die in der ersten Amtszeit begonnenen Sozialprogramme die Perspektive, in den Mittelstand aufzusteigen.

Unter Lula gewann Brasilien weiteres internationales Ansehen. Es untermauerte seine Bewerbung um einen Ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat durch Leitung der Friedensmission auf Haiti, verstärkte die Süd-Süd-Zusammenarbeit, auch in Richtung lusophones Afrika, und vertrat seine Interessen auf Gipfeltreffen im Kreis der G-20 und der BRICS. Es war Initiator der Gemeinschaft Südamerikanischer Staaten – die jedoch, ebenso wie der Mercosur, keine realen Integrationsfortschritte erbrachte.

Lula betraute mit der Koordination seines innenpolitischen Schwerpunktprogramms, des PAC, seine Ministerin im Präsidialamt (davor Bergbau- und Energieministerin) Dilma Rousseff. Durch die damit verbundene Öffentlichkeitswirkung baute er sie zu seiner Wunsch-Nachfolgekandidatin auf.

Im Wahlkampf 2010 lieferten sowohl die Widerstandsrolle von Dilma Rousseff unter der Militärdiktatur als auch ihre Regierungserfahrung unter Lula als auch die boomende Wirtschaftsentwicklung und die Sozialprogramme wichtige Argumente. Damit konnte sie sich im zweiten Wahlgang gegen José Serra (PSDB – der schon 2002 als Gegenkandidat Lulas angetreten war) klar durchsetzen.

Erneut hatte ihre Partei – die PT – jedoch keine parlamentarische Mehrheit errungen. Bei der notwendigen Koalitionsbildung und mit ihren Personalentscheidungen hatte sie jedoch keine glückliche Hand: eine Serie von Korruptionsvorwürfen führte zu Ministerrücktritten, die das erste Amtsjahr Rousseffs 2011 überschatteten. Sie selbst blieb aber unbelastet, ihre Popularität erreichte Spitzenwerte über 70%.

Die neuerliche Zuspitzung der internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise beeinträchtigte nunmehr auch die Entwicklung  in Brasilien. Das Wachstum, das noch im letzten Amtsjahr Lulas 7,5% betragen hatte, fiel auf  2011:2,7% und in  den Folgejahren noch weiter zurück. Dies zwang die Präsidentin, ihre ursprünglichen Sparziele aufzugeben und mit weiteren öffentlichen Ausgaben, darunter ein PAC II, die Konjunktur zu stützen. Der Zentralbankzins wurde schrittweise abgesenkt und Verbrauchssteuern ermäßigt, um den Konsum anzukurbeln. Dies gelang – so blieb die Arbeitslosigkeit auf dem historischen Tief von 6%.

Eine weitere Folge der internationalen Entwicklung war zunächst der durch hohe Zinsen angelockte massive Zustrom von Auslandskapitel. Dies trieb den Wechselkurs des Real in die Höhe und erschwerte brasilianische Industrieexporte. Im Gegenzug wurden Kapital- und Güterimporte  durch protektionistische Maßnahmen eingeschränkt. Andererseits profitierte Brasilien von hohen Preisen für seine Rohstoffe wie Eisenerz und Agrargüter. Der Fund von Erdöl- und Erdgaslagerstätten vor der Küste weckte Hoffnungen auf eine weitere günstige Entwicklung.

Ab Mitte 2013 setzte eine gegenläufige Entwicklung ein: Die US-Zentralbank stoppte die Geldvermehrung, was zu Rückfluss in Brasilien angelegter Gelder und zum Verfall des Wechselkurses Real/Dollar führte. Inflationäre Entwicklungen belasteten den Binnenkonsum. Als Gegenmaßnahme wurde der brasilianische Zentralbankzins wieder erhöht. In der Folge schwächelten Industrieproduktion und Binnenkonsum.

Das zweite Amtsjahr der Präsidentin war innenpolitisch geprägt. Die im Oktober 2012 anstehenden Kommunalwahlen waren auch Gradmesser für die Popularität von Präsidentin und Regierung angesehen.  Das Ergebnis war zwiespältig: Einerseits gewann die Arbeiterpartei (PT) die Wahl in der Stadt São Paulo. Andererseits verlor die PT wichtige Landeshauptstädte im Nordosten – wo Lula und Rousseff bei den Präsidentschaftswahlen 2002, 2006 und 2010 überwältigende Mehrheiten eingefahren hatten.

Mitursächlich für die Verluste der PT war der seit Jahresmitte vor dem Obersten Bundesgericht verhandelte „Mensalão“-Skandal aus Lulas erster Amtszeit. Er enthüllte ein weit gefächertes Korruptionssystem zulasten öffentlicher Kassen und untergrub weiter das Vertrauen der Wähler in das Parteiensystem – in das sich nun auch die PT, einst als moralische Alternative angetreten, voll verstrickt hatte.

Außenpolitisch fuhr die Präsidenten einen – im Vergleich zu Lula – zurückhaltenden Kurs. Die Stellung in der internationalen Gemeinschaft wird behauptet – so der Anspruch auf einen Ständigen Sitz im Sicherheitsrat und die Mitwirkung bei den BRICS und bei den G-20. In der internationalen Umweltpolitik blieb der Gipfel 2012 in Rio de Janeiro hinter den Erwartungen zurück. In der Südamerikapolitik bleibt das Verhältnis zu Argentinien wegen protektionistischer Maßnahmen  und zu dem durch Verfall des Erdölpreises geschwächten Venezuela problematisch. Regionale Integrationsfortschritte blieben bisher aus.

Zur Erbschaft der Ära Lula gehörten die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016. Unter Rousseff musste das Land diese Großereignisse durchführen und bezahlen. Dabei führten ab 2013 die Kostensteigerungen für Stadionbau und Logistik bei sich eintrübender Wirtschaftslage und mangelnden Investitionen für Bildung und Gesundheit zu Massenprotesten vor allem jugendlicher Demonstranten. Entgegen vieler Unkenrufe wiederholten sich diese nicht im Jahr der Fußball-WM, die insgesamt gut verlief – mit Ausnahme der schlimmen Niederlage Brasiliens gegen Deutschland. Aber die Forderungen von 2013 prägten den Wahlkampf 2014. Dilma Rousseff trat zur Wiederwahl an. Als Vize hatte sie Michel Temer (MDB) auf dem Wahlzettel, von ihm erhofften die Strategen Stimmen aus der Mitte.

Gegenkandidat war Aécio Neves (PSDB), ehemals Gouverneur von Minas Gerais und Spross einer Polit-Dynastie. Rousseff gewann knapp. Das Wahlergebnis offenbarte ein politisch und wirtschaftlich gespaltenes Land: Im Norden und Nordosten Mehrheiten von Empfängern von Sozialleistungen für Rousseff, im Süden und Südosten Mehrheiten der „Leistungsträger“ für Neves. Die Regierungsbildung spiegelte eine schwierige Balance zwischen Links und Mitte-Links. Das politische Szenario wurde von Anfang an überschattet durch den Korruptionsskandal „Lava Jato“ (vgl. Kapitel 9). Bereits Ende 2014, also noch vor Beginn der zweiten Amtszeit von Rousseff, setzte sich die Verschlechterung der brasilianischen Wirtschaftsdaten fort. International war mitursächlich die Konjunktur-Delle bei den Handelspartnern China und USA und der Einbruch von Rohstoffpreisen. So entstand eine ungute Gemengelage aus negativem Wachstum, steigender Inflation, niedrigen Exporterlösen, rückläufigem Binnenkonsum, sinkendem Wechselkurs und Kapitalabflüssen, hoher Arbeitslosigkeit (bis 13,5%). In Landesteilen herrschte Dürre – trotzdem entwickelte sich die Landwirtschaft positiv. In Summe: die längste Rezession seit den 1930er Jahren.

Zur Hauptaufgabe ihrer Regierung erklärte die Präsidentin, diese Entwicklungen umzukehren und damit den Besorgnissen der Bevölkerung und Forderungen der heimischen Wirtschaft und der internationalen Partner Rechnung zu tragen. Der Zentralbankzins wurde auf 14,25% erhöht, Haushaltskürzungen, Steuerreformen und Haushaltskürzungen eingeleitet. Allein: Ankündigungen und Versprechungen reichten nicht.

Aus Oppositionskreisen und ihren Unterstützern in der Presse, in „Wutwellen“ der Sozialen Medien und nicht zuletzt in landesweiten Massendemonstrationen – auf dem Höhepunkt im Frühjahr 2016 sieben Millionen Teilnehmer – kam die immer stärkere Forderung „Fora Dilma“ – „Dilma raus!“, also die Präsidentin ihres Amtes zu entheben („Impeachment“). Diese Vokabel wurde zum Schlüsselbegriff der weiteren Entwicklung – bei ansonsten politischem Stillstand.

Im Parlament brach die „Koalition Lula“, d.h. gemäßigt Links-Mitte. Vizepräsident Temer kündigte mit einem offenen Schreiben seine Gefolgschaft und warb um Öffnung nach Rechts, insbesondere ins Lager des unterlegenen Präsidentschaftskandidaten Neves und zu konservativ-evangelikalen Kreisen.

In der Abgeordneten-Kammer (bei Impeachment: Anklagebehörde) wurden erste Anträge auf Impeachment eingebracht. Begründung nicht etwa Straftatbestände, wie in der Verfassung eigentlich vorgesehen, sondern „Haushaltsmanipulationen“. Tatsächlich waren in den letzten Jahren von staatlichen Banken z.B. Beamtengehälter und Sozialleistungen ausbezahlt und erst mit Zeitverzögerung aus dem Staatshaushalt erstattet worden: so konstruierte man eine „illegale Kreditaufnahme“.

Präsidentin und PT hatten anfangs wohl gehofft, den Sturm abzuwettern. Aber die einstigen Spitzenwerte ihrer Popularität von über 70% brachen auf einstellige Werte zusammen. Im 2. Halbjahr 2015 wurden in der Kammer mehrere Impeachment-Anträge offiziell eingebracht. Überdie Frage, wann sie auf die Tagesordnung kommen, bestimmte der Kammer-Präsident und Erzfeind von Rousseff  Eduardo Cunha. Ende 2015 wurde ein erster Antrag angenommen. Bei Abstimmung über die Zusammensetzung der Sonderkommission für die Beweisaufnahme und bei der endgültigen Einleitung des Impeachment-Verfahrens im April 2016 zeigte sich, dass Rousseffs parlamentarische Unterstützung nicht mehr existent war.

Das nun folgende Verfahren im Senat (bei Impeachment: Gericht) verlief unter dem Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. Dabei kristallisierte sich immer mehr heraus, dass es bei einem rechtlich fragwürdigen Vorwurf tatsächlich um ein politisch motiviertes Verfahren ging: Abgeordnete und Senatoren verkündeten öffentlich bereits vor Ende der Beweisaufnahme ihr Votum – streng nach Parteilinie. Nationale Aufmerksamkeit erreichte dabei ein Hinterbänkler: Jair Messias Bolsonaro – er widmete seine Stimme pro Impeachment dem aus der Militärdiktatur übelst bekannten Folter-Oberst Ustra (Rousseff war in den Diktaturjahren verhaftet und gefoltert worden).

Das Verfahren im Senat führte im Mai 2016 zu einem Zwischenergebnis: Rousseff wurde für 180 Tage ihres Amtes enthoben. Im August 2016 folgte das endgültige Aus: Amtsenthebung. Allerdings nicht verbunden mit dem Verbot, künftig für öffentliche Ämter zu kandidieren – Zeichen des Zweifels an der rechtlichen Grundlage? Rousseff und die PT sprachen von „Putsch“.

Das Ziel, das Wahlergebnis von 2014 umzukehren, wurde nicht erreicht. Politische Nemesis ereilte die Hauptakteure. Neves wurde nicht Präsident, sondern selbst in Korruptionsvorwürde verstrickt. Cunha wurde wegen erwiesener Korruption sein Mandat aberkannt und zu Gefängnis verurteilt. Temer erbte als Präsident ein Verfahren wegen illegaler Wahlkampffinanzierung 2014. Bald geriet er in ein eigenes Impeachment-Verfahren. Und er wurde – noch Vize – bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele ausgepfiffen.

Im Herbst 2016 zogen die Brasilianerinnen und Brasilianer bei den Kommunalwahlen ihre eigene Bilanz und votierten für „neues Personal“: Die PT verlor rund 60% ihrer Bürgermeisterposten, in São Paulo wurde Bürgermeister der Unternehmer João Doria, in Rio de Janeiro der Evangelikale Kirchenmann Marcello Crivella. Ungewöhnlich hoch die Zahl der weißen und ungültigen Stimmzettel – das Vertrauen in die politische Klasse war auf einem Tiefpunkt angekommen.

Nach gut drei Monaten als Interimspräsident wurde Michel Temer (MDB) am 31. August 2016 (der Tag, an dem das Impeachment-Verfahren gegen Dilma Roussef durch eine letzte Senatsentscheidung abgeschlossen war) als 37. Präsident der Republik vereidigt.

Der 1940 im Bundesstaat Sao Paulo geborene Juraprofessor und MDB-Politiker Temer ist seit 1993 Abgeordneter in der brasilianischen Abgeordnetenkammer und war zweimal deren Präsident. 2010 wurde er auf der Wahlliste (chapa) Dilma Roussefs zum Vizepräsidenten Brasiliens gewählt und fünf Jahre später in seinem Amt bestätigt. Ende März 2016 kündigte er die Regierungskoalition und war einer der Hauptbetreiber des Sturzes Dilmas.

Nach 13 Jahren wurde die Herrschaft der PT beendet, wenn auch nicht durch Wahlen, sondern durch ein zwar juristisch gesehen einwandfreies, politisch aber durchaus fragwürdiges Amtsenthebungsverfahren. Allerdings gelang es der PT nicht, aus ihrer Argumentation eines Putsches („golpe“) politisches Kapital zu schlagen: Im Gegenteil, bei den Kommunalwahlen im Oktober 2016 erlitt sie eine empfindliche Schlappe.

Dank der breiten Unterstützung überwiegend von Mitte und Mitte-Rechtsparteien (die sog. Coaligacao: PP, PSDB, PSD, DEM, PRB, PV, PTB, PR) gelang es Temer schnell, ein Kabinett zusammenzustellen und bis zum Ende seines Mandats eine breite Machtbasis in beiden Häusern des Parlamentes zu erhalten.

Temer trat mit dem Versprechen an, den freien Fall der Wirtschaft zu stoppen. Konkret nannte er in seiner Antrittsrede Reformen der Sozialversicherung und die Modernisierung des Arbeitsrechts. Auch erklärte er, dass die Hauptziele seiner Regierung Sozialprogramme, Wirtschaftswachstum, die Schaffung von Arbeitsplätzen, Rechtssicherheit und die Befriedung des Landes seien. Seine Regierungsbank bestand fast ausschließlich aus weißen, zumeist älteren Männern. Schon in den ersten acht Monaten seiner Regierung mussten drei Minister wegen Korruptionsvorwürfen gehen, in den zwei Jahren und vier Monaten seiner Regierungszeit gab es 29 Wechsel auf der Regierungsbank. Allerdings vermochte Temer auch einige anerkannte Persönlichkeiten ins Kabinett zu holen, so Ilan Goldfaijn als Chef der Zentralbank, Raul Jungmann als Verteidigungs- und später Sicherheitsminister sowie Henrique Mireilles als Finanzminister. Seinen kurzzeitigen Justizminister Alexandre de Moraes machte er im Frühjahr 2017 zum Richter am STF, wo er später (siehe Kapitel Bolsonaro) noch Schlagzeilen machen würde.

Nach der tiefen Wirtschaftskrise der letzten Dilma-Jahre hofften viele Brasilianer auf einen Neuanfang, auf eine effiziente Regierung, Reformen und vor allem eine Erholung der Wirtschaft. In einigen Teilbereichen konnte Temers Regierungsmannschaft auch durchaus Erfolge verbuchen. Die Zinsen sanken, der Aktienindex stieg, der Real blieb stabil und das in Richtung Staatsbankrott weisende Haushaltsdefizit konnte deutlich reduziert werden. Nach der schweren Rezession 2015/2016 wuchs das Bruttoinlandprodukt 2017 und 2018 wieder, wenn auch nur um bescheidene 1,32 bzw. 1.78%. Bei Petrobras, das in den letzten PT-Jahren einen Schuldenberg von gut 492 Mrd. Reais (Ende 2015) angehäuft hatte, war eine Trendwende gelungen und konnte der höchste Marktwert in der Unternehmensgeschichte erzielt werden. Allerdings stieg die Arbeitslosigkeit weiter. Auch bei der öffentlichen Sicherheit konnte Temers Regierung mit dem fähigen Minister Raul Jungmann für innere Sicherheit punkten: Nach dem traurigen Höhepunkt im Jahr 2017 mit 65.602 Morden (31,6 auf 100.000) wurden 2019 mit noch 41.635 Todesopfern die niedrigste Opferzahl seit Bestehen einschlägiger Statistiken verzeichnet.

Von seiner ehrgeizigen Reformagenda konnte Temer allerdings nur Teile verwirklichen. Zu nennen sind hier vor allem die Arbeitsrechtsreform, die Einführung einer Obergrenze für Staatsausgaben (teto de gastos) und ein Gesetz zur Regulierung von Staatsunternehmen (Lei das Estatais). Mit der Arbeitsrechtsreform wurde die inflationäre Praxis von Gewerkschaftsgründungen (zeitweise gab es über 30.000 Betriebsgewerkschaften) beendet und der vielfach missbrauchte und daher überstrapazierte Gerichtsweg erschwert (Brasilien hatte 2016 die weitaus höchste Anzahl von Arbeitsrechtsverfahren weltweit), aber auch die Chance versäumt, den Rahmen für ein modernes Gewerkschaftswesen und so etwas wie eine Tarifpartnerschaft zu setzen. Mit der Ausgabengrenze wurde der ungezügelten Ausgabenwut nicht nur der Regierung, sondern auch vieler Abgeordneter ein Korsett im Verfassungsrang angelegt und mit der Lei das Estatais Mindestvoraussetzungen für Käufe, Ausschreibungen und Personalpolitik von Staatsfirmen geschaffen, um deren Ausschlachtung für politische Interessen (und Korruption) zu erschweren. Die versprochene Sozialversicherungsreform blieb ebenso auf der Strecke wir eine dringend nötige Steuerreform. In der Umweltpolitik war die Bilanz der Regierung gemischt, da einem Anstieg der Entwaldung seit 2014 ein Rückgang im Jahr 2017 und ein erneuter Anstieg 2018 folgte.

Nicht nur die Arbeitsrechtsreform stieß auf scharfe Kritik bei Gewerkschaften und linken Parteien. Auch deutliche Kürzungen (10 Mrd. R$) bei Sozialprogrammen wie der Bolsa Familia, der Frührente aus Gesundheitsgründen und Krankengeldern bewiesen aus Sicht vieler Brasilianer, dass Temers Regierung nur die Interessen der Reichen im Auge habe und seine Politik vor allem auf einen Sozialabbau hinauslaufe.

Doch waren es nicht die Licht- und Schattenseiten des Regierungshandelns oder eine schlagkräftige Opposition, die Temer ins Wanken brachten, sondern er selbst, genauer ein handfester Skandal mit ihm im Mittelpunkt. Temer hatte in einem (abgehörten) Telefonat den von einem Großindustriellen geschilderten kriminellen Machenschaften zugehört und nichts unternommen, um diese zu unterbinden. Die Veröffentlichung des für eine Kronzeugenaussage genutzten Mitschnitts war ein politisches Erdbeben, das Brasilien erschütterte. Temers ganzes Augenmerk war von nun an auf sein politisches Überleben und nicht mehr auf die Durchsetzung der für das Land so wichtigen Reformen gerichtet. Die Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft unter Rodrigo Janot führten im Juni 2017 zu zwei Strafanzeigen gegen Temer und andere Spitzenpolitiker vor dem Obersten Gerichtshof wegen passiver Korruption, Bildung einer kriminellen Vereinigung und Behinderung der Justiz. Doch trotz der (im Vergleich zu Dilma Rouseffs Impeachment) deutlich schwereren Vorwürfe und der recht eindeutigen Beweislage gelang es Temer in beiden Fällen, die drohende Anklage im Parlament (das nach brasilianischem Verfassungsrecht einer Anklage zustimmen muss) mit bequemen Sicherheitsmargen abzuwehren. An eine Präsidentschaftskandidatur war freilich nicht mehr zu denken.

Allein der Fall Temer hätte schon gereicht, um das angeschlagene Vertrauen vieler Brasilianer in Regierung und Parteien, ins politische „Establishment“ zu erschüttern. Die Umfragewerte für Temers Regierung sanken jedenfalls auf einen historischen Tiefststand. Gleichzeitig sorgte im Mai 2018 ein Streik der Lastwagenfahrer für Versorgungsengpässe und mancherorts Chaos. Viele Brasilianer hatten genug („saco cheio“) von Regierung, Parteien und Politikern. Der Wahlkampf in der zweiten Jahreshälfte 2018 spiegelte diese Grundstimmung deutlich wieder und brachte einen Außenseiter an die Macht: Jair Messias Bolsonaro. Mehr dazu im übernächsten Kapitel.

Die Verbitterung der Menschen in Brasilien war verständlich, denn selbst der Fall Temer war nur die Spitze eines Eisberges von Korruption und kriminellen Machenschaften. Die Operation „Lava Jato“ (dt.: Autowaschanlage, benannt nach einer Tankstelle mit Autowaschanlage in Brasilia, die der Polizei wegen dubioser Finanztransaktionen aufgefallen war) entwickelte sich zu der wohl weltweit größten Ermittlungsaktion gegen Korruption und Geldwäsche. Medienwirksam inszeniert gerieten nicht nur Firmenchefs von Großunternehmen, darunter Odebrecht und Batista, sondern auch über 150 Minister, Senatoren, Abgeordnete, Gouverneure und Funktionsträger ins Visier der Strafverfolgungsbehörden und landeten oft im Gefängnis. Der Fund von Geldkoffern mit 51 Mio. R$ in einem den Brüdern Viera Lima (Gedell V.L. war 2016 eine Art Kanzleramtsminister im Kabinett Temer) gehörenden Apartment und die Verurteilung des der PMDB angehörigen Sprechers der Abgeordnetenkammer (und Protagonisten der Absetzung Dilma Roussefs) Eduardo Cunha trugen ein Übriges dazu bei, dass die gesamte „Politikerklasse“ in den Augen weiter Bevölkerungskreise als durch und durch korrupt galt. Umgekehrt wurden die Hauptakteure von Lava Jato, Bundesrichter Sergio Moro und der Bundestaatsanwalt Deltan Dallagnol zu wahren Volkshelden. Endlich, so glaubten viele, sei es mit der Straflosigkeit für die Reichen und Mächtigen vorbei.

Lava Jato zielte nicht einseitig auf die PT ab, mit einer gewichtigen Ausnahme: Ex-Präsident Lula, der angekündigt hatte, sich bei den Wahlen 2018 um eine dritte Amtszeit zu bewerben. In einer ebenso spektakulären wie fragwürdigen Pressekonferenz im September 2017 wurde er als Herz und Gehirn, als Epizentrum der Korruption in Brasilien dargestellt. Bereits im Juli 2017 hatte Moro Lula zu 9 Jahren und 6 Monaten Haft wegen Geldwäsche und passiver Korruption (Hintergrund im ersten Verfahren war die Zurverfügungstellung eines Luxusapartments in Guajara durch den Baukonzern OAS; weitere Verfahren u.a. wegen Bestechung im Zusammenhang mit einem Landhaus in Atibaia folgten) verurteilt, 2018 erfolgte die zweitinstanzliche Verurteilung durch ein Kollegialgericht mit einem noch höheren Strafmaß. Da Rechtsbehelfe zum Obersten Gericht nicht fruchteten, war Lula nicht nur von einer Kandidatur ausgeschlossen, sondern musste letztlich 580 in Haft verbringen. Auch wenn die Vorwürfe gegen Lula nicht völlig substanzlos waren, wurden bereits damals die Eile, mit der das Verfahren gegen ihn durchgezogen und das Strafmaß angesichts eines überschaubaren Vermögenswertes sowie einer teilweise dünnen Beweislage vielfach kritisiert, so auch vom VN-Menschenrechtsausschuss.

Schwer erschüttert wurde Lava Jato aber erst nach der Machtübernahme durch Bolsonaro, der sich den „Helden“ von Lava Jato als Justizminister ins Kabinett holte. Damit war deutlich geworden, dass Moro mindestens auch eine politische Agenda hatte. Die immer mehr aufkeimenden Zweifel an der richterlichen Unparteilichkeit erhielten massiven Auftrieb, als das Nachrichtenportal Intercept im Juni 2019 Mails und WhatsApp Nachrichten veröffentlichte, die eine unzulässige (nach deutschem Recht wohl auch strafbewehrte) Kollusion Moros mit der Staatsanwaltschaft belegten. Moro überwarf sich zwar mit Bolsonaro, der ihn prompt aus dem Kabinett entließ. Seine Glaubwürdigkeit, wie auch die anderer Protagonisten von Lava Jato, war aber irreparabel beschädigt. Zwei Jahre später ging es dann Schlag auf Schlag: Im März 2021 hob STF Richter Edson Fachin die Urteile gegen Lula in Sachen Guajara und Ataiba wegen Unzuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichtes in Curitiba (also des Dienstortes von Moro, der die Zuständigkeit mit Sitzen von an Lava Jato beteiligten Großfirmen in Curitiba begründet hatte) auf, im April 2021 folgte das Plenum des STF mit der Aufhebung der Entscheidungen gegen Lula in allen vier laufenden Verfahren. Bereits im März 2021hatte der STF geurteilt, dass Moro parteilich bzw. befangen war. So wurde Lula nach 580 Tagen Haft auf freien Fuß gesetzt und war wieder wählbar geworden, da alle Urteile gegen ihn kassiert und an die laut STF zuständige Bundes-Staatsanwaltschaft und Gerichtsbarkeit in Brasilia verwiesen worden waren. Doch nicht nur Lula profitierte von Moros fragwürdigen Machenschaften und der sehr späten Einsicht des STF in örtliche Zuständigkeiten (der STF hatte seit 2017 zahlreiche Rechtsbehelfe Lulas abgelehnt!). Auch viele korrupte Politiker, Unternehmer und Mittelmänner witterten Morgenluft. Denn mit dem Ende von Lava Jato besteht die reale Gefahr, dass die Straflosigkeit für die Reichen und Mächtigen wieder zurückkommt.

Weite Teile der Bevölkerung Brasiliens waren über Korruption, Nepotismus und ineffiziente Regierungsführung enttäuscht. Lava Jato hatte in die Abgründe der Korruption hineinblicken lassen. Nicht nur die PT, sondern fast das ganze Parteienspektrum galt als Sumpf der Korruption. Hohe Kriminalität, eine durchwachsene Wirtschaftslage, Mängel im Gesundheits- und Schulwesen und zuletzt auch Versorgungsprobleme aufgrund eines Streiks der LKW-Fahrer führten zu einer tiefsitzenden Verbitterung weiter Teile der Bevölkerung. Viele Menschen hatten die Nase voll. Und genau dieses Gefühl wusste ein Mann glänzend auszunutzen, der für eine tiefgreifende Umgestaltung der politischen Kultur Brasiliens steht: Jair Messias Bolsonaro.

Der aus einfachsten Verhältnissen stammenden ehemalige Heeres-Hauptmann Bolsonaro war im Laufe seiner 28-jährigen Zugehörigkeit zur Abgeordnetenkammer kaum durch Gesetzesinitiativen (allerdings hatte er sich stets für soziale Belange von Polizisten und Militärs eingesetzt), sondern vor allem durch oft wüste Ausfälle gegen Indigene, Schwarze und Parlamentarierinnen aufgefallen. Damit hatte er sich allerdings einen harten Unterstützerkern, eine große Gefolgschaft in sozialen Medien (weit mehr als alle seiner Konkurrenten im Wahlkampf zusammengenommen) und den Ruf als der saubere Außenseiter im Politikgeschäft, als ein Mann des Volkes erworben.

Dieses Kapital wusste Bolsonaro in politische Münze umzusetzen. Aus einer noch neun Monate vor der Präsidentschaftswahl 2019 hoffnungslosen Schlusslichtposition gelang es ihm, das gesamte politische Establishment aus dem Rennen zu schlagen (wobei ihm sehr zu Gute kam, dass sein potentieller Hauptgegner Lula nach zwei Gerichtsentscheidungen eine Haftstrafe antreten musste und nicht kandidieren durfte – siehe Kapitel 9). Mit griffigen Parolen und oft virtuoser Handhabung populistischer Instrumente traf er den Nerv vieler Wähler: Schluss mit dem Augiasstall (acabar com tudo isso), die PT als Hort der Korruption und Sammelbecken von Verbrechern, ideologiefreie Schule, Christentum und Familie sowie weniger Wasserkopf Brasilia (menos Brasilia, mais Brasil) waren einige seiner Schlagworte, denen seine Gegner nichts ähnlich griffiges entgegensetzen konnten. Ein Messerattentat, bei dem er schwer verletzt wurde, verlieh ihm zusätzliche Popularität und ermöglichte sein Fernbleiben von TV-Debatten, die seine inhaltlichen Schwächen hätten bloßlegen können. Auch waren die sog. Evangelikalen (Pfingstkirchen) in den vergangenen Jahren nicht nur immer stärker, sondern auch politischer geworden und deutlich nach rechts gerückt. Ihre Anhänger wählten jedenfalls ganz überwiegend Bolsonaro, dessen scharfe Polarisierung politische Gegner auch gleich als Feinde des Christentums brandmarkte.

Und so scheiterte der zunächst als Favorit angesehene, aber blasse Kandidat der PSDB (Tucanos), der ehemalige Gouverneur von Sao Paulo, Geraldo Alckmin schon in der ersten Runde mit kläglichen 4,76 %. Die jahrzehntelange Rivalität von PT und PSDB war damit zu Ende. Auch war klar geworden, dass breite Wahlbündnisse, und damit Geld und Sendezeiten in TV und Radio (die Alckmin mit seiner Wahlkoalition im Übermaß und die PT in beachtlichem Umfang vorweisen konnten, während Bolsonaro weit weniger als eine Sendeminute pro Tag hatte) einen deutlich geringeren Einfluss auf das Wählerverhalten hatten als in früheren Wahlkämpfen. Die absolute „Luftüberlegenheit“ Bolsonaros in sozialen Medien erwies sich als „game changer“. Nachdem die PT nicht aus dem Schatten Lulas hinaustreten und dem der linken Mitte zugehörigen (und Drittplatzierten in der ersten Wahlrunde) Ciro Gomes  die kalte Schulter gezeigt hatten, erlitt ihr Spitzenkandidat Fernando Haddad (auch dank fehlender Unterstützung durch Gomez) im zweiten Wahlgang eine deutliche Niederlage (44,87 gegen 55,13 %). Bolsonaro triumphierte und mit ihm die ehemalige Splitterpartei PSL (52 Sitze), die die arg gerupfte PT (von 69 auf 56 Sitze geschrumpft) fast erreichte und die PSDB (25 Sitze) weit hinter sich ließ. Größter Verlierer in dem stark zersplitterten Parlament (Rekordzahl von 30 Parteien) war die PMDB Temers, die von 66 auf 34 Sitze schrumpfte.

Bolsonaros Kabinettsbildung folgte nicht dem üblichen Muster. Statt mit Parteichefs Posten und Geld gegen politische Unterstützung im Parlament zu verhandeln, bildete er seine Regierung ohne die üblichen Tauschhändel und nur nach Konsultation der sog. Bancadas, also parteiübergreifender Interessengruppen wir etwa den Evangelikalen oder der Landwirtschaftslobby. Diese Abweichung vom presidencialismo de coalicao (oder spöttisch ‚de bazar‘) erlaubte die Besetzung zahlreicher Ministerien mit z.T. anerkannten Fachleuten (Wirtschafts- und Finanz- „Superminister“ Paulo Guedes) und Technokraten, sehr oft ehemaligen Militärs (wie den Infrastrukturminister Tarcisio Gomes), die auch bei der Besetzung von Führungspersonen innerhalb ihrer Portfolios freie Hand hatten und jedenfalls weniger auf politische Kuhhändel Rücksicht zu nehmen hatten. Dem gegenüber standen einige irrlichternde Figuren, wie etwa die schnell wechselnden Erziehungsminister, die evangelikale Pastorin und Ministerin für Frauen und Familie Damaris Alves und der nach zwei Jahren geschasste Außenminister Araujo – die freilich beim harten Kern der Bolsonaro-Wähler durchaus Anklang fanden. Mit der Ernennung des ehemaligen Lava-Jato-Richters und damaligen Volkshelden Sergio Moro gelang Bolsonaro ein echter Coup, der seinen Wahlversprechen zum Kampf gegen die Korruption zusätzliche Glaubwürdigkeit verlieh.

Trotz ungefestigter Unterstützung im Parlament verbuchte die Regierung Bolsonaro zumindest anfangs einige Erfolge. Dank der Unterstützung des damals mächtigen Präsidenten des Abgeordnetenhaues, Rodrigo Maia, konnte eine dringend nötige Sozialversicherungsreform durchgesetzt werden. Einige Privatisierungen wurden in Angriff genommen, Petrobras gesundete zunehmend und die Wirtschaftsdaten waren überwiegend gut. Investitionen nahmen zu und viele Firmen lobten die sauberen Ausschreibungen etwa bei Infrastrukturprojekten. Die Kriminalität sank weiter. Auch konnte 2021 die Autonomie der Zentralbank gesetzlich geregelt werden. In der Außenpolitik wurden zwar langjährige Traditionen über Bord geworfen. Die Schadensbilanz hielt sich aber in Grenzen. Der Kuschelkurs mit Donald Trump mag wenig gebracht und das Verhältnis zu Biden zusätzlich belastet haben, aber langfristige Schäden nahm das bilaterale Verhältnis offenbar nicht. Die Verlegung der Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem – ein Geschenk an die Evangelikalen – glich dem Berg, der kreißte und eine Maus gebar – geblieben ist nur die Eröffnung eines Wirtschaftsbüros in der heiligen Stadt. Der scharfe Kurs gegen das Maduro-Regime machte vor einer militärischen Intervention im Nachbarland halt und die anfangs heftigen Ausfälle gegen China verstummten zunehmend: Der Druck der Wirtschaft, aber auch der Militärs setzte außenpolitischen Abenteuern klare Grenzen. Auch der Austritt Brasiliens aus der ideologisch heterogenen Regionalorganisation CELAC ließ sich verschmerzen.
Doch wo Licht ist, ist auch Schatten – und bei Bolsonaro war es weit mehr Schatten als Licht.

Auch die Tatsache, dass seine Söhne wegen dubioser Geschäfte ins Visier der Polizei gerieten, Bolsonaro zu deren Schutz einen ihm genehmen Polizeichef einsetzen wollte und damit am STF scheiterte, schließlich seinen Justizminister Moro feuerte, konnte seine Anhängerschaft nicht wirklich erschüttern, geschweige denn seine Regierung ins Wanken bringen.

Das wohl schlimmste, und für viele Brasilianer tödliche Kapitel war jedoch Bolsonaros Umgang mit der Covid-19-Pandemie, die er systematisch klein redete (gripezinha=leichte Grippe), mit unwirksamen Medikamenten behandeln lassen wollte und deren Bekämpfung mit wirksamen Impfstoffen er zumindest verzögerte. Statt dem Massensterben (über 600000 Tote) Einhalt zu gebieten oder wenigstens Mitleid mit den Opfern zu zeigen, verschliss er vier Gesundheitsminister, darunter den kompetenten MDB-Politiker und Arzt Mandetta auf dem Höhepunkt der Krise im April 2020. Doch Bolsonaro überstand auch das und musste weder strafrechtliche Ermittlungen noch die zahllosen Impeachment-Anträge im Parlament ernsthaft fürchten. Ein Grund dafür war, dass er sich in der zweiten Hälfte seines Mandats zunehmend den Parteien der Mitte-Rechtsgruppierung, des sog. Centrao zuwandte – eben den Politikern, die er in früheren Jahren und Jahrzehnten als Ikonen endemischer Korruption und Vetternwirtschaft verurteilt hatte. So zog er dann auch die klassischen Wahlkampfregister und erhöhte im Wahlkampf 2022 die Sozialausgaben kräftig, obwohl er früher das von Lula geschaffene Sozialprogramm Bolsa Familia heftig kritisiert hatte. Dank des Centrao konnte er dafür sogar die verfassungsrechtlich verankerte Ausgabendeckelung durchbrechen. Relativ gute Wirtschaftsdaten, insbesondere sinkende Preise und Arbeitslosigkeit halfen ihm zusätzlich, im zunächst hoffnungslos erscheinenden Wahlkampf mit dem ehemaligen Präsidenten Lula, der 2022 zum dritten Mal antrat, zu punkten.

In einem extrem polarisierten Wahlkampf, der von beiden Seiten mit harten Bandagen und Schlägen unter die Gürtellinie geführt wurde, schaffte Bolsonaro mit 43,2 % – für viele unerwartet –  im ersten Wahlgang nur knapp hinter Lula (48,43%) zurückzubleiben. Trotz hoher Ablehnungsraten für die beiden Hauptkontrahenten hatten Kandidaten des dritten Weges, etwa die Senatorin Simone Tebet (4,16%) oder der ewige Dritte, 2022 nur noch Vierte, Ciro Gomez (3,04%) nicht den Hauch einer Chance. Der zweite Wahlgang war eine Zitterpartie. Das extrem knappe Wahlergebnis – Lula gewann mit 50,90% – zeigt die Zerrissenheit des Landes, dessen Bürger ihren Kandidaten oft nur deshalb wählten, um das Schlimmste, nämlich den anderen Kandidaten zu verhindern.

Bolsonaro erwies sich erwartungsgemäß als schlechter Verlierer und erkannte das Wahlergebnis nicht an, stellte sich dem Machtwechsel aber auch nicht direkt in den Weg. Blockadeaktionen von Fernfahrern, bolsonaristische Protestcamps oft vor Kasernen und ein knapp verhindertes Bombenattentat zeigten, dass die Saat des Hasses und des Misstrauens gegen Institutionen und Wahlverfahren bei vielen Brasilianern aufgegangen war.  Auch wenn die Verfassungsorgane und Institutionen Brasiliens bemerkenswert stabil geblieben waren, hatte die Päppelung (über 6.000 ehemalige Militärs waren zuletzt in der Regierung tätig, darunter viele auf Spitzenposten – 2018 unter Temer waren es noch deutlich unter 3.000) und die Politisierung von Militär und Polizeikräften deren professionelle Verfassungsloyalität zumindest beschädigt. Schon bei den Wahlen, später beim (unterbliebenen oder schwachen) Vorgehen gegen illegale Straßenblockaden und erst recht bei den Unruhen vom 8. Januar 2023, als Hunderte Bolsonaro-treue Vandalen in den Präsidentenpalast, den Kongress und das Oberste Gericht eindrangen, zeigte sich, dass nicht mehr auf alle Teile der Polizeien und des Militärs Verlass war.

Mit zwei Urteilen vom 30.06 und 1.11.23. entschied der oberste Wahlgerichtshof (STE) Brasiliens mit 5:2 Stimmen, dass Bolsonaro das passive Wahlrecht bis 2030 entzogen werde.

Der Beginn der dritten Amtszeit Präsident Lulas wurde durch Unruhen am 8. Januar auf die Probe gestellt. Tausende von Bolsonaro-Anhängern verwüsteten die Gebäude des Parlaments und des Obersten Gerichtshofes sowie das Präsidialamt, offenbar organisiert und mindestens von Teilen der Sicherheitskräfte geduldet, wenn nicht unterstützt. Zahlreiche Straf- und Untersuchungsverfahren laufen, erste Verurteilungen von Randalierern führten zu hohen Haftstrafen. Gegen den Minister für öffentliche Sicherheit des Hauptstadtdistriktes Brasilia, Anderson Torres erging Haftbefehl. Der Gouverneur von Brasilia DF wurde von Lula vorläufig seines Amtes enthoben, konnte nach zwei Monaten aber aufgrund einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofes in sein Amt zurückkehren.

Lulas erstes Amtsjahr verlief danach überwiegend ruhig und erfolgreich. Nach einigen Niederlagen im Kongress gelang es ihm, Mehrheiten für Haushaltsgesetze und eine wichtige Steuerreform zu mobilisieren. Dazu beigetragen hatte vermutlich die Erweiterung des Kabinetts von 16 auf 37 Ministerien, die eine Berücksichtigung einer großen Zahl von Parteien ermöglichte. Sein Regierungsprogramm stellt soziale Maßnahmen, Integration von Minderheiten, Armutsbekämpfung, Kampf gegen Ungleichheit und eine Reindustrialisierung durch staatliche Fördermaßnahmen in den Vordergrund. Trotz heftiger Kritik an der Zentralbank, Sorgen vor ausufernden Haushalsdefiziten und fragwürdigen Plänen zur Rückgängigmachung von Privatisierungen wuchs die Wirtschaft stärker als erwartet um etwa 3%, die Arbeitslosigkeit sank deutlich und die Inflation ging ebenfalls kräftig zurück (und damit auch der Zinssatz SELIC). Ebenfalls deutlich zurück ging die Entwaldungsrate im Amazonas.

Lula unternahm 25 Auslandsreisen und brachte damit Brasilien „zurück“ auf die Weltbühne. Allerdings wurden Lulas Kotau (glanzvoller Empfang in Brasilia) vor dem venezolanischen Regimechef Maduro und seine problematischen Äußerungen zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine heftig kritisiert.

Umgekehrt besuchten zahlreiche deutsche Spitzenpolitiker vom Bundepräsidenten über Bundeskanzler, Außenministerin und zahlreiche Kabinettsmitglieder Brasilien. Am 4. Dezember 2023 fanden erstmals seit 2015 wieder Deutsch-Brasilianische Regierungskonsultationen (in Berlin) statt.

Das Jahr 2024 wurde von schweren Naturkatastrophen geprägt. Gewaltige Waldbrände legten (bisher) eine Fläche etwa in der dreifachen Größe von Bayern in Schutt und Asche, mehr als die Hälfte davon im Amazonasgebiet, befördert auch durch eine Jahrhundertdürre dort. Im Süden hingegen kosteten die schwersten Regenfälle seit über 50 Jahren 250 Menschen das Leben. Zehntausende verloren Haus und Hof, Hab und Gut. Die Infrastruktur erlitt schwerste Schäden.

Politisch sitzt Lula zwar fest im Sattel, die Ergebnisse der Kommunalwahlen waren aber enttäuschend für seine Arbeiterpartei PT. Zwar gewann die PT (nach massiven Verlusten 2014 und 2020) etwas hinzu, liegt aber auf kommunaler Ebene nur noch an achter Stelle des brasilianischen Parteienspektrums und kontrolliert kaum noch große Städte (darunter nur eine Hauptstadt eines Bundesstaates: Fortaleza in Ceará). Damit gelang es der Regierung Lula nicht, die insgesamt guten Wirtschaftsdaten und hohen Sozialleistungen in Wählerstimmen umzumünzen.

Die Mitte-Rechtsparteien des sog. Centrão und die PL des ehemaligen Präsidenten Bolsonaro konnten sich hingegen über deutliche Zugewinne freuen und stellen in der großen Mehrheit der Kommunen die Bürgermeister.

Punkten konnte Lula hingegen auf außenpolitischer Ebene. Der G20-Gipfel in Rio war gut organisiert und geleitet, das Abschluss-Kommuniqué ist gehaltvoll und lässt die Handschrift Brasiliens – Bekämpfung von Armut und Hunger, Klimaschutz, Reichensteuer – deutlich erkennen

Um Lulas Widersacher, Ex-Präsident Bolsonaro zieht sich gleichzeitig die Schlinge enger. Er, Mitglieder seiner früheren Regierung und zahlreiche führende Generäle werden von der brasilianischen Bundespolizei PF des versuchten Staatsstreichs Anfang 2023 beschuldigt; sie hat die Ermittlungsergebnisse an die Generalstaatsanwaltschaft PGR und den Obersten Gerichtshof STF weitergeleitet.